Lemme tell ´yah little story...
Kurz vor Danzig kündigt ein Schild einen Rastplatz an. Es sind die letzten Tage einer Reise auf der Jagd nach der nordeuropäischen Sonne. Die Augen müde, die Arme schlaff, jetzt ein kurzer Halt, kurz verschnaufen... Dann die Erkenntnis: Die Einfahrt des Parkplatzes liegt zur Linken, Walter ächzt unter der Bremslast, hustet, erstirbt. Quer zur Fahrtrichtung, auf einer polnischen Schnellstraße, dreht die Hand nervös am Zündschlüssel, drehen die Gedanken um das "Warum?". Warum in den Urlaub mit einem Auto, das bereits 1973 im VW-Werk Hannover montiert und nach Amerika exportiert wurde, als man selbst noch Zukunftsmensch, kommende Generation war? Warum passiert es gerade hier? Warum eigentlich Polen?
Die Gedanken fliegen, Walter nudelt traurig, die Batteriekontrolllampe flackert wenig ermutigend, Autos rasen - durch das Seitenfenster sichtbar - heran, und die Gedanken gehen in Blitzzeit zurück an den Beginn: Kreiseziehend auf dem Ohlsdorfer Friedhof mischt sich die Ehrfurcht ins Lenkspiel, ist die rasenmäherlaute Vorfreude lediglich eine Ahnung des Abenteuers, das vor der schrankwandflachen Schnauze liegen mag. Die Aussicht auf Regen war es gewesen, die die Pläne von Norden in den Osten verkehrten, aus Dänemark Danzig werden ließen. Nach strahlend schönen Wochen in Hamburg war der Sommer jetzt woanders.
Erster Stop Wismar und die Erkenntnis, dass in Deutschland zu zahlen hat, wer am Wasser parken will, es ohnehin zu wenig Stellen gibt. Ein grosser Rasenparkplatz auf Poel tat es auch. Walter im untergehenden Licht und ein Lächeln geht über den Bierschaummund. Weiter nach Usedom und die Menschen lächeln und winken Walter zu. Er macht dazu seinen erstaunten Gesichtsausdruck mit den hochgezogenen Augenbrauen und rollt bis Lütow. Waldcamping an der Klippe, Walter im Wind, Wohnzimmergefühl im Kerzenschein und das erste Frühstücksrührei aus der Puppenküche.
Als die Sonne über dem Meer aufgeht, schieben wir die Gardinen zur Seite, sehen den T4 von Winfried aus Freiburg, der gleich bei dem ersten Handschlag ein Fachgespräch begann... (seit dem sind wir der Einfachheithalber die Besitzer von Walter und hauen selbstbewusst den Faktenmix raus, der uns zur Verfügung steht: Kommt aus Kalifornien, 1,8l, Westfalia-Ausbau, jaja, Kopfnicken, Arme verschränken - Expertengesten des Alltags) ...und freuen uns über diesen Camper-Moment. An der Steilküste aufzuwachen mit dem Kindheitsgefühl des Einmummelns in der selbstgebauten Höhle, das geht wohl nur mit einem Bus - im besten Fall mit Walter oder "Walt", wie wir ihn nach kurzer zeit beim Gutzureden nach störischen Amplemomenten nennen. In Richtung Seebäder geht es auf der Hauptstraße der schmalen Insel im Stop-and-Go. Während Walter auf dem Waldparkplatz ein Nickerchen macht, geben wir uns dem Kutterort hin. Menschen in Freizeitkleidung, die sich in Kolonnen über die Seebrücke schieben, missmutig Eise lecken und ein Bananenboot bei 15 Grad und Nieselregen auf der Ostsee. Dieser Anblick zieht uns so herunter, dass wir vom Plan auf dem Waldparkplatz zu übernachten abweichen und per GoogleMaps den nächsten See suchen.
Am Gothensee finden wir an einem abschüssigen Feldweg einen Platz, schieben Walt Steine vor die Räder, aus Angst in der Nacht unfreiwillig ins Tal zu fahren und legen einen Zettel hinter die Windschutzscheibe: "Sind liegengeblieben - holen Kühlwasser - Bitte nicht abschleppen". Walter lacht mit heiserer, luftgekühlter Stimme mit. Es ist Viktorias Geburtstagsnacht, die erste Sternschnuppe des Lebens und Wunderkerzen im Nachthimmel. Am nächsten Tag dann Kurs auf Kolberg. Walter bekommt das obligatorische Hippieflair verpasst. Mit Fähnchenparade in der Windschutzscheibe - anlässlich Viktorias 32. Geburtstag - sind wir die Attraktion an jeder Kreuzung. Kolberg - Kolobrzeg, Perle Pommerns. Hier kann man noch für zwei Euro vor dem Bahnhof parken. An der Promenade zeigt sich, dass Urlaub in Polen auch immer 50 Prozent Kirmes bedeutet. Bude reiht sich an Bude, Softeis, Aktionskünstler, Spruchshirts. Als wären die Neunziger nie zu Ende gegangen. Wir lassen ein Foto von uns machen, das mit haarsträubender Photoshoptechnik in ein romantisches Bild der Sehenswürdigkeiten von Kolberg montiert wird. Eine Postkarte des Grauens. Ansonsten eine Stadt mit gemütlichem Vibe, etwas grau mit ein paar schönen Plätzen, von denen man dann allen erzählt. Irgendwie so, wie Wuppertal am Meer. Ziel der Nachmittagsetappe ist Mielno, zwischen Boddensee und Meer gelegen. Auf der Landstraße hat es ein Pole eilig, er schert aus und fährt mit seinem Mercedes SUV auf uns zu. Da wir hinter einem 40 Jahre Stahlblech sitzen, geht die Laune kurz in den Keller und der Puls in ungeahnte Höhen. Mielno empfängt dann mit einer Ballermann-Hauptstraße. Als Soundtrack droht wieder stilsicher neunziger Eurodance aus den Souvenierhütten und wir parken Walter auf einem Rasenstück, das offiziell als Campingplatz betrieben wird. Die polnische Jugend mit aufgemotztem Jetta springt leicht schwankend aus den Campingstühlen und quittiert unsere Ankunft mit "Volkswagen!"-Rufen. Soweit alles richtig.
Ein Bad in der polnischen Ostsee, einige Gläser Polnischer Sommer und Pierogi auf dem Spiritusherd. Du schönes Polen! Am nächsten Morgen steuern wir den Höhepunkt der Reise an: Danzig - Gdansk, deutsch-polnischer Zankapfel, Schauplatz der ersten Kämpfe im 2. Weltkrieg, kaputt gebombt, originalgetreu wieder aufgebaut - mit traurig-hässlicher Trabantenstadt versehen stand sie da, als wir ankamen. Auf dem Weg zum Campingplatz weichen wir Schlaglöchern aus. Angekommen sieht ein junger Deutschpole, der in den Ferien auf dem Platz jobbt, Walter und gibt uns seinen für besondere Anlässe freigehaltenen Spezialplatz und wir fangen an, an Karma zu glauben: Stadtwanderung durch die Zeit, Gratis-Führung durch heimliche Teilnahme, Lachs am Hafen. Nur einen Tag für diese Stadt zu haben: Falsch, aber leider Tatsache! Der Rückweg dann in einem Ruck - 8,5 Stunden laut Handynavigation - 12 Stunden mit Walter. Lesen uns mangels Hörbüchern aus Iris Radischs Camus-Biografie und Marc Fischers gesammelten Reportagen vor, schweben mit hundert Sachen gen Hamburg-Altona...